Buch des Jahres

BeatlesLastConcert Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

Jon Savage beschreibt in «1966: The Year the Decade Exploded» ein taumelndes Jahr zwischen Aufbruch und Reaktion. Ein Schnelldurchlauf durch das enorm dichte, in zwölf Monats-Kapiteln gegliederte Buch des «England’s Dreaming»- und «Teenage»-Autors.

Januar

Das Jahr «des Lärms und des Tumults», so Jon Savage, beginnt mit dem «Sound of Silence». Denn die Stille, die Paul Simon und Art Garfunkel in der ersten Platz-1-Single des US-Chartsjahres besingen, ist keine friedliche, sondern eine, in der die Traumata des Zweiten Weltkriegs und ein latent drohender Atomkrieg Raum finden. Savage findet diese Angst vor einer neuerlichen Weltkatastrophe auch in der obskuren Single «The Quiet Explosion» der Band The Ugly’s, einer der vielen Acts, die im Schatten der Beatles wirkten. Die Bombe, sie tickt leise, doch vernehmbar.

Februar

Die Rolling-Stones-Single «19th Nervous Breakdown» erscheint – und der Wahnsinn rund um die Bösewichte nimmt weiter seinen Lauf. Und was macht eigentlich das Album? Noch nicht so viel, denn: «In early 1966, the single was still king.» Doch das sollte sich rasch ändern. Auch mit neuen prägenden Songs da: The Kinks! The Who! The Yardbirds! Was auch noch passiert? Die Erfindung des Labels «Swinging London» – das bereits im April an Glanz verloren hatte.

März

«There was a war, of course», beginnt Savage das dritte Kapitel, das er dem Krieg in Vietnam widmet. Was das für die Popmusik und die Teenagekultur bedeutet? Songs wie «Monk Time» von den Monks – und das Propagandastück «The Ballad of Green Berets» von Sgt. Barry Sadler, dem grössten US-Hit des Jahres. Dazwischen gab es nicht viel, und der Generationenkonflikt radikalisierte sich.

April

LSD kommt im Pop an, nachzuhören im Song «The Third Eye» der Dovers, der Jon Savage als Ausgangspunkt für die Explorationen der Psychedeliker dient. Und die Ära der Selbstentdeckungen beginnt.

Mai

Es ist Frühling, Zeit für «Walkin’ My Cat Named Dog» von Norma Tanega und Nancy Sinatras «These Boots Are Made for Walkin’» – und ein neues weibliches Bewusstsein, sowohl gesellschaftlich wie auch in der Popmusik. Doch natürlich: die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern kann das noch nicht lösen.

Juni

Andy Warhol zieht mit Nico und der «Exploding Plastic Inevitable»-Show durch die USA. Die Geschichte der Velvet Underground beginnt: «They were, like Warhol, a mirror of America in 1966», so Savage

Juli

«One, two, three»: Wilson Pickett zählt «Land of 1000 Dances» an, einen Song, der in dieser ungebändigten Form unerhört war. «The force of black music was unstoppable», schreibt Savage. Doch die Black Community, sie befand sich ein Jahr nach Selma in einer komplizierten Lage: «Hope was being replaced by frustration and anger.»

August

Rechte für Homosexuelle? Gab es 1966 noch nicht. Doch die Popmusik war eine Insel, beispielsweise für den schwulen Produzenten Joe Meek, der mit «Do You Come Here Often?» einen mehr schlecht als recht codierten Song für die Gay-Community aufgenommen hat. Das half ihm nichts: Meek ging zugrunde, gleich wie später der Beatles-Manager Brian Epstein, der in diesem Monat die letzte, tumultöse US-Tour der angefeindeten Fab Four betreuen musste.

September

Der Druck, unter dem die abgehetzen Popstars arbeiten mussten, wird für viele zu gross. Zusammenbrüche und Bandauflösungen sind die Regel in diesen Tagen. Alles explodiert? Nun, fast alles – zumindest in der furiosen Single «7 and 7 Is» von Love. Savage schreibt: «There was a sense that things had gone too far, far too quickly.»

Oktober

Ein schnulzender Song beherrscht die Charts – und es scheint, dass ein Backlash bevorsteht. Denn «Distant Drums» von Jimmy Reeves hätte, so Savage, irgendwann produziert werden können. Und für einmal gibts keine Beatles oder Rolling Stones, die diese Single von der Top-Platzierung stürzen. Der Herbst 1966: Ein Gefühl von Retromania, zumindest in England – trotz den ersten Auftritten von Syd Barretts Pink Floyd.

November

Aus den Motown-Studios schicken The Four Tops ihre Single «Reach Out I’ll Be Here» – und verdrängen «Distant Drums» auch in England: «It marked the moment when black American music emerged from the shadows to claim its place in the sun», heisst es in diesem Kapitel, in dem auch die Katastrophe im süd-walisischen Dorf Aberfan nacherzählt wird. Eine Katastrophe, bei der 144 Menschen getötet wurden – und die in Songs wie The Kinks «Dead End Street» nachwirkten. Was sonst noch geschah? Die Beach Boys besuchen London mit «Pet Sounds» und ihrer neuen Single «Good Vibrations», Ronald Reagan wird Gouverneur von Kalifornien – und die Repressionen nehmen zu.

Dezember

«Yesterday, today or tomorrow: what was it to be?» Das war die Frage, der sich Popmusiker Ende 1966 stellen mussten. Eine neue Sprache musste her, auch für die Musikpresse. Rock wurde geboren, während Psychedelia vor allem in den USA den Ton angab. Der Generationenkonflikt freilich verschärfte sich: «It wasn’t just Vietnam, or consumerism, or even freedom of speech; it was everything, that had to be transformed».

ROYAL TPB FConly Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

Jon Savage: «1966. The Year the Decade Exploded». London, Faber & Faber.

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