Die zweiten 11 Halbjahresplatten 2023
Was ich höre und gehört habe und was ich mitnehmen werde: das ist an dieser kleinen Auflistung aus dem Popletter unten zu entnehmen – mit allen Leerstellen, die solche Aufstellungen mit sich bringen.
Mitski: «The Land Is Inhospitable and So Are We» (Dead Oceans)
Ein Song des Jahres gleich zuerst: «Bug Like an Angel» beginnt als naturbelassenes Gitarrenlied, bis nach wenigen Sekunden ein Gospelchor das grosse Wort «family» erschütternd eindringlich singt – und zumindest ich gar nicht anders kann, als einfach weiterzuhören. Denn dies hier ist ein Album, auf dem alles Sinn ergibt: der Heavy-Goth-Folk, die luxuriösen Streicherarrangements («Heaven»!), das Schwelgende, das Desolate, das Bellen der wilden Hunde. Am Schluss sind alle aufgefressen, nur Mitski ist noch hier: «Streets are mine, the night is mine», und: «I’m king of all the land». Guter Stoff auch für Ottessa Moshfegh, eigentlich.
Tara Clerkin Trio: «On the Turning Ground» (World of Echo)
Fünf Songs, geschickt aus Bristol von dieser Band, die sehr eigene Runden dreht: Vibes und Strings und Noises und sweet Gesänge und 90er-Beat-Echos, seltsam träumend-hellwach. Immer noch: ein allerbester Ruhepol inmitten der Unruhe.
Moictani: «Cinq heures trente-deux» (Bleu Lagon Records & Maison Bah Oui)
Es war fantastisch heiss im Sommer und Moictanis «Il fait chaud» war eine der geheimen Hymnen in jenen zerfliessenden Tagen. Und als die Hitze langsam weitergezogen war, erschienen auch die restlichen losrennenden und schattigeren und nie ankommenden Songs, die Galsh-Mitglied Tania Praz für «Cinq heures trente-deux» aufgenommen hat. Für alle Nächte, gegen alle Kälten.
Lewsberg: «Out and About»
Zurück vom Strand, rein in die Grossstadt. Denn von dort scheint die Alltagsmusik von Lewsberg zu stammen, die von Arztbesuchen und leeren Gläsern und Poeten erzählt. Am besten zu hören ist «Out and About» in schlurfender und doch zielgerichteter Bewegung durch die nicht so grossen Städten hierzulande (just imagine, sie wären grösser), oder in einem Sidewalk-Café, während die Leben vorüberziehen. Und vielleicht sitzt an der nächsten Bushaltestelle ja Lou Reed mit sire Ggofere ir Hang.
Spivak: «You Win Again» (Ecstatic)
Die Stimme von Maria Spivak tauchte in den letzten Jahren immer wieder in den Tracks von Not Waving auf, recht weltverloren klang sie dann, aber auch einnehmend präsent. Das ist auch auf «You Win Again» so, auf dem die Zypriotin insulare Clubtracks und Bedroom-Popminiaturen zu einem konzentrierten und auch immer wieder angespielten bzw. durchgehörten Album sequenziert. Ein Winner, natürlich.
Loraine James: «Gentle Confrontation» (Hyperdub)
Auf Konfrontationskurs jetzt – mit Loraine James' Glitch-Sounds und Noises der Gegenwart und mit ihren autobiografischen Erkundungen, die sie in ihre Tracks einwebt. Das war bereits auf dem Debüt «You and I» so; auf «Gentle Confrontation» gräbt sie nun weiter und tiefer in ihrer Biografie, zieht in den Club, in die Emo-Vergangenheit, erinnert sich ans Kartenspiel mit ihren Grosseltern oder an den frühen Tod ihres Vaters. Ein tief berührendes Album, zum Trauern, zum Zuversicht schöpfen und, ja, zum Tanzen.
Slauson Malone 1: «Excelsior» (Warp)
Vielleicht war es im Frühjahr, als ich meinen eigentlich unverrückbaren Glauben ins Album beinahe verloren habe. Aber klar, das Album lebt für immer, und das war in diesem Jahr auch gerade dank Jasper Marsalis zu hören. «Excelsior» ist Kammermusik, ist laut und frei und schreit einen an, lässt so viele Stillen offen, bis zur Unsicherheit. Was kommt als nächstes? Joe Meeks «I Hear a New World» beispielsweise, mit «New Joy» ein freier Rocksong, und die grosse Verschränkung mit allen geisterhaft präsenten Guests ganz am Schluss im eingeklammerten Tower of Love. Dort sind wir.
L'Rain: «I Killed Your Dog» (Mexican Summer)
Taja Cheek ist auch in Slauson Malone 1s «Us»-Chor aufgelistet, soviel Übergang muss sein. Nach ihrer grossen «Fatigue» bewegt sie sich nun in traumlogischen und hellwachen Songbewegungen weiter weg von all den Erwartungen und erwarteten Ideen. It's psychedelic und ausufernd, aber doch immer scharf, und wenn man sich immer wieder gefragt hat: «what's that song?» (und auch «what's that sound?»), kommt mit «New Year's UnResolution» einer der grossen Driftersongs dieser Tage. Alles hinter sich lassen, alles vergessen? Vielleicht zurück zum «Pet Rock». Auch hier: wie viel Musik und wie viele Reisen in knapp 36 Minuten doch Platz haben.
ML Buch: «Suntub» (15 love)
Die schönsten und strahlendsten und auch strangesten Popsongs? Vielleicht hat sie ML Buch auf diesem Album versammelt, eingespielt mit ihrer Gitarre, supercheaper Drummachine und verschiedenen Stimmungen und Schichtungen. «Here we go with our temporary bodies» – rein in die «high speed calm air».
Jessy Lanza: «Love Hallucination» (Hyperdub)
Im Limbo zwischen Bett und Club und Tränen und Lust sind die neuen Tracks von Jessy Lanza, die vor den Autos flüchten und den selbstgerechten Lovers die Türe weisen. Einmal mehr: ein Album für all the time (mitsamt einem jener Slow-Schlusssongs, die nur Jessy Lanza so kann), don't stop now.
Time Is Away: «Searchlight Moonbeam» (Efficient Space)
Mehr als viele Alben hörte ich auch in diesem Jahr Mixtapes, recht
random bestellt, und bei zufälligen Gelegenheiten eingelegt und
angespielt. Was dort drauf ist, von wem die Musik stammt: bleibt sehr
oft ungewiss, und es spielt auch keine Rolle, solange die
Kompilierer:innen mit den ausgewählten Songs andere Geschichten
erzählen.
«Searchlight Moonbeam» zähle ich zu jenen Mixtapes, das von Time Is Away (aka Jack Rollo und Elaine Tierney, die dank hörspielartigen Essays und Mixtapes wie «Ballads» bekannt sind) kompiliert wurde. 15 Stücke versammeln hier die beiden, zwischen den Zeiten, abseits den Zeiten, durch die Zeiten, für alle Zeiten. Was für eine Suchbewegung – bis hin zur Winterreise.
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Die 11 ersten Halbjahresalben sind hier gebündelt. Merci für die Musik. <3
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