Börsencrash und Weltflucht
Klingende Entfremdung in wuchernder Musik: Die Goldenen Zitronen veröffentlichen in ihrem 25. Band-Jahr das Album «Die Entstehung der Nacht».
Wenn alles gesagt und erklärt und ver- handelt ist, die Börsencrashs, Bezie- hungsdramen, das Begräbnis des Kärnt- ner Landeshauptmanns und die Kritik an reaktionären Popsternchen und Neoliberalismen, dann bleibt nur noch die Weltflucht übrig: «Wir verlassen die Erde als enttäuschte Herde» und «Dies ist ein Abschiedsgruss. Und kein Klingelton» trällern Schorsch Kamerun und seine fünf Mitgefährten in einem lupenreinen Poplied. Ein Lied, das trotz den unterschwelligen Dissonanzen das ein- gängigste Produkt der Goldenen Zitro- nen ist, seit sie mit der Fun-Punk-Nummer «Am Tag, als Thomas Anders starb» in der «Bravo» als Skandal-Band aufgetaucht sind.
Vertonte Brüche
Seit diesem Hit-Zwischenfall sind 23 Jahre vergangen. In der Zwischenzeit fiel die Mauer, die Feindbilder haben sich gewandelt, der sogenannte Diskurspop der Hamburger Schule ist gekommen und gegangen, während die beiden ständigen Mitglieder der Gol- denen Zitronen, Ted Gaier und Schorsch Kamerun, mittlerweile in der subventionierten Theaterlandschaft ihr Geld verdienen. Geld, das vermeintlich zum Bau eines eigenen Studios beigetragen hat, in dem die Zitronen das neue, zehnte Album einspielten.
«Die Entstehung der Nacht» enthält neben gewohnt viel Text und der hör- spielartigen, ätzenden Montage «Bloss weil ich friere» überraschend viel und wesentlich zugänglichere Musik als der Vorgänger «Lenin». Zwar bleibt der Text «erstes Instrument», wie auf der Homepage der Goldenen Zitronen in einer Art Manifest zum neuen Album zu lesen ist: «Um sich aber den Unzu- länglichkeiten von Sprache, ihren Klischees oder Konfrontationslinien (...) zu entziehen, findet die inhaltliche Aussage der Platte ebenso drängend im Musikalischen statt.»
Und drängend ist dieses Musikalische: Kraut-Rock-Psychedelik, düstere kraftwerksche Synthesizer, schamanenhafte Trommeln und krachende und schneidende Gitarren sind zu vernehmen, angereichert mit präparierten Klavieren und schrullig-dilettantischen Blockflöten, die dem Hippie-Wust zu entstammen scheinen und das weite und wuchernde Zitronen-Referenzsystem in ungeahnte Richtungen ausdehnen.
Desillusionierte Hippies
Nachdem diese Welt ausgemessen und trällernd verlassen ist, singt Michaela Melián, Mitglied der vergleichbar offenen Pop-Institution F.S.K., gebrochen und desillusioniert das Hippie-Lied «Beautiful People» mit einer Stimme und einem Akzent, die ungemein an die Warhol-Muse Nico erinnern.
Der letzte Akt dieser grossen und dunklen Platte gehört schliesslich dem heilig-närrischen «Flötisten an den Toren der Dämmerung». Denn wenn die Worte versiegt sind, kann man nur noch dilettieren – und Blockflöte spielen. Einen Ausweg gibt es immer.
Der Artikel aus dem «Bund» vom 22. August 2013 zum Download (PDF 490,917 KiB)